Europa leidet unter dem Verlust von Vertrauen, Sicherheit und gemeinsamer Vision. Was tun? An einer Tagung der EKS in Bern deutete die Ethikerin Christine Schliesser die gesellschaftliche Entwicklung als Krise der Liebe, der Hoffnung und des Glaubens.
Christen haben Liebe geschenkt bekommen, um Liebe zu üben – im öffentlichen Raum als Verantwortung. Von Dietrich Bonhoeffer her hielt Christine Schliesser fest, dass es keine private Kirche gibt. Theologie und seien immer öffentlich, auf den anderen gerichtet, mit der Frage, «wie eine kommende Generation weiterleben kann».
Christine Schliesser sprach am 4. November an einer Tagung, welche die Schweizer Reformierten für die die «Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa» (GEKE) durchführten. Die GEKE entstand auf dem Boden der «Leuenberger Konkordie», einer 1973 erarbeiteten Übereinkunft. In ihr hielten die protestantischen Kirchen fest, was sie eint – über 400 Jahre nach dem Streit Luthers mit Zwingli, der sie bitter entzweit hatte.
Seither können Reformierte und Lutheraner gemeinsam Abendmahl feiern. Die Berner Tagung – 50 Jahre nach dem historischen Brückenbau auf dem Leuenberg im Baselbiet – brachte die Gegensätze in Europa und die Schwäche der Kirchen in den Blick.
Hoffnung bezeugen!
Der Krise der Sicherheit können Christen mit Hoffnung begegnen, mit «Arbeit für eine bessere Zukunft». Auf die Krise der Vision kann Glaube antworten, der eine Öffentliche Theologie inspiriert. Diese könne als eine Toolbox dienen in gesellschaftlichen Spannungsfeldern. Christine Schliesser konkretisierte die Stossrichtungen nach dem dreifachen Amt von Christus als König, Prophet und Priester. Aufgrund seiner Auferstehung verwegene Hoffnung zu bezeugen, sei heute vielleicht die herausragende Aufgabe der reformatorischen Kirchen.
In der Diskussion wies Christine Schliesser darauf hin, dass die europäischen Gesellschaften «auf dem religiösen Auge blind geworden sind». Die Kirchen sollten religiös sprachfähig machen, doch hätten sie sich selbst zunehmend säkularisiert. Die Ethikerin bezweifelte, dass säkulare Menschen noch so religiös musikalisch sind, wie manche Theologen sie haben möchten. Die Öffentliche Theologie brauche nicht nur Ethik (Appelle zur Aktion), sondern auch Dogmatik.
Menschen aus Seenot retten
Annette Kurschus, die Vorsitzende der Westfälischen Kirche und seit 2021 Ratsvorsitzende der EKD, sprach in Bern – wenige Tage vor ihrem jähen Rücktritt. Sie gab Einblicke ins mühsame Geschäft, mit differenzierten Stellungnahmen in den Medien anzukommen. Sie plädierte für eine «Beherztheit, die sich auch traut, mit dem Halbfertigen schon mal zu beginnen.» Und auch schwach anzufangen – gelegentlich Schwäche einzugestehen.
Kurschus vertrat – wie zu erwarten war – den Einsatz der EKD für die Seenotrettung und Aufnahme von Migranten und kritisierte den aktuellen Neuansatz der EU zu einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik. Die Kirchen hätten zu einem sachlichen Ton in der Debatte beizutragen und mitzuwirken, dass Fakten nicht verdreht werden.
Die Kirchen dürften in der humanitären Aufgabe nicht einknicken, sagte Kurschus. Sie wünschte legale Migration auf sicheren Wegen, denn «wir brauchen Zuwanderung». Nötig sei ein europäischer Verteilungsmechanismus. «Ausgrenzung und Beschämung von Menschen, die anders sind als ich, verträgt sich nicht mit Gottes Liebe.» In jedem, der geflüchtet ist, sei Gott zu erkennen. Kirche müsse ein sicherer Raum sein, in dem niemand verhetzt wird.
Wider die nationalistischen Versuchungen
Ganz andere Perspektiven entfaltete der dritte Referent am Samstag, einer der führenden Theologen der Reformierten Ungarns. Sandor Fazakas, Professor in Debrecen, referierte über Konservatismu und die Versuchung des Nationalismus. Er ging aus vom Grundbedürfnis des Menschen, sich in der Welt zu verorten, sich zu orientieren.
Die Nation wird in einem GEKE-Papier als geschichtliche Erfahrungsgemeinschaft, Sozialisationsgemeinschaft und Verantwortungsgemeinschaft beschrieben. Völker seien von ihren nationalen Erfahrungen geprägt, konstatierte der Ungar 103 Jahre nach dem traumatischen Vertrag von Trianon. Sandor Fazakas plädierte für das Bewahren und Pflegen der christlichen koinonia (Gemeinschaft). Christen sollten aus Barmherzigkeit leben und Barmherzigkeit gewähren!