Die Sozialdiakonin Flavia Hüberli arbeitet bei der Innovationsstelle «Start-up Kirche» der reformierten Thurgauer Kirche. Sie kennt die Klagen von Überlastung, die verhindern, dass sich Kirchgemeinden mit der Zukunft beschäftigen, sie hat aber Wege gefunden, wie es dennoch gelingt. Davon erzählt sie hier.
Von Lukas Huber
Nach ihrem Studium am Theologisch-Diakonischen Seminar arbeitete Flavia Hüberli elf Jahre als Jugendarbeiterin. «Ich habe aber immer von Innovation geträumt», sagt sie im Podcast «Aufwärts stolpern». Mit Neuerungen beschäftigt sie sich jetzt hauptberuflich an der Innovationsstelle «Start-up Kirche» der reformierten Thurgauer Kirche.
Der Anfang war eher ernüchternd: «Ich war zu Beginn wohl etwas naiv. Ich dachte, ich bekomme viele Telefonanrufe von motivierten Menschen, die etwas aufbauen wollen.» Doch diese Art von Anrufen waren eher Einzelfälle. «Die Leute, die Probleme in Kirchgemeinden lösen helfen, waren dagegen wahnsinnig gefragt», sagt Hüberli. Sie habe oft Aussagen gehört wie: «Wenn wir dann endlich die neue Pfarrerin haben oder wenn das Kirchgemeindehaus umgebaut, dann können wir uns mit inhaltlichen Themen beschäftigen.»
Podcast-Co-Host Anna Näf fragt, was denn eine Kirchgemeinde braucht, um innovativ zu werden. Es seien oft einzelne Personen in einer Kirchgemeinde, die etwas Neues anfangen wollen, hat Hüberli beobachtet. Wenn Innovationen in ganzen Kirchgemeinden gelingen sollten, gelte: Die Beziehungen müssen gesund sein, die Kirchgemeinde muss Menschen erreichen wollen, die noch nicht da sind, und es brauche die Offenheit Veränderungen gegenüber.
Kaffee und Crêpes
Für die Kantonalkirche hat sie das Projekt Kaffeemobil umgesetzt: einen Autoanhänger mit Kaffeemaschine und zwei Crêpeplatten, den Kirchgemeinden für Jahrmärkte oder Dorffeste mieten können. «Ein Diakon hat mir nachher erzählt, dass er an einem Wochenende so viele Kurzgespräche geführt hat wie sonst in drei Monaten.» Diese positiven Erfahrungen könnten dann dazu führen, dass man auch an einem anderen Ort mutiger werde.
Die Frage stellt sich: Wo soll man anfangen? «Die meisten ahnen, dass man etwas unternehmen muss, wissen aber nicht, was», sagt Flavia Hüberli. Dazu kommt, dass der rasant wachsende Abstand zwischen Kirche und Gesellschaft Kirchgemeinden lähme. Und dann fehlen die Ressourcen: Zeit, Personal, Geld.
Angebote beenden
Wenn Hüberli zu einer Beratung eingeladen werde, redet sie nicht nur von Innovation, sondern auch von Exnovation: Man kann nicht immer neue Dinge anstossen, Kirchgemeinden müssen auch Dinge beenden, Angebote abschaffen.
Das allerdings ist keine Stärke der Kirche, kommentiert Podcast-Co-Host Lukas Huber. Hüberli widerspricht nicht, sagt aber: «Oft hilft es, wenn man in der Kirchenvorsteherschaft einfach noch einmal darüber redet. Manchmal klärt sich etwas ganz von alleine, wenn man im Gespräch merkt: Das ist ja nicht nur meine Idee.»
Klarer Fokus
Es falle einfacher, wenn man genau erklären kann, warum man ein Angebot beenden will, sagt Flavia Hüberli. «Es kann helfen, wenn man begründen kann, warum man jetzt zum Beispiel den Fokus auf Familien legt.»
Weiter sagt Hüberli: Man brauche Feingefühl, dass die Leute, die da sind, nicht das Gefühl haben, dass man ihnen etwas wegnimmt. Man kann das Neue auch tröpfchenweise einführen und das Alte noch eine gewisse Zeit weiterlaufen lassen, bis alle sehen, dass es funktioniert.
Aufhören ist das eine, abgeben das andere. Wenn ein Pfarrer von den Vorgängern die Tradition übernommen hat, im Jahr 100 schriftliche Glückwunschkärtchen von Hand zu schreiben, kann er einfach aufhören – oder vielleicht findet man jemanden, der das mit Leidenschaft macht.»
Die Befähigung von Freiwilligen ist Hüberli wichtig. Sie habe eine Kirchgemeinde beraten, in der Menschen eine neue Form von Gottesdienst ausprobieren wollten. Die Angestellten sagten, sie hätten keine Zeit dafür. Hüberli hat in der Folge mit 20 Freiwilligen das neue Format entwickelt. Es wird seit über einem Jahr vollständig durch Freiwillige getragen.
Prototyp statt Projekt
Die Innovationsexpertin unterscheidet bei dem Entwickeln von neuen Ideen und Formaten zwischen Prototypen und Projekten. Kirchgemeinden planten gewöhnlich Projekte: Ein Angebot wird mit einem Zeithorizont von Jahren geplant und dann ausgeschrieben. Dabei sei es oft sinnvoller, einfach einmal einen Prototypen durchzuführen. Für einen einmaligen Anlass finde man einfacher Mitstreiterinnen und Mitstreiter. «Und man ist viel mutiger.» Wenn der Prototyp ein Flop sei, sei das kein Problem. Wenn er aber gut herauskommt, kann man sich immer noch überlegen, ob man den Anlass – verbessert – wiederholt.
Im letzten Teil der «Aufwärts-stolpern»-Episode erzählt Flavia Hüberli von ihren Erfahrungen mit dem Projekt «Open Place» in Kreuzlingen, von der Freude über das Wachstum und den Herausforderungen in Sachen Strukturen, die ein wachsendes Projekt mit sich bringt.
Fachstelle «Start-up Kirche»
Der Werbetrailer für «Kaffeemobil – Kirche bei dir»
Das Projekt Open Place