An einem Vortragsabend an der Uni Freiburg skizzierte der anglikanische Theologe Graham Tomlin, was wir von den Christen der Antike für die Spätmoderne lernen können. Kirche kann aufleben – jenseits ihrer eigenen Säkularisierungsprozesse.
Graham Tomlin sprach am 17. November 2023 im Rahmen einer internationalen Konsultation, zusammen mit dem prominenten deutschen Theologen Wolfgang Huber. Während dieser die Entwicklung der letzten Jahrzehnte auf dem Kontinent resümierte, blickte der Brite zugleich weiter zurück und voraus.
Tomlin setzte ein mit der Berufung der Kirche, als erwähltes Volk Christus zu bezeugen. Die Säkularisierungsprozesse, wie sie in Europa ablaufen, sind die Ausnahme – auf anderen Kontinenten nimmt mit der Modernisierung die Religiosität nicht ab. Tomlin verwies zudem mit dem Bild der Gezeiten darauf, dass sich Zeiten religiösen Niedergangs (18. und 20. Jahrhundert) mit erwecklichen Aufbrüchen (19. Jahrhundert) abwechseln.
Letztere dürfen erneut erwartet werden, sagte der Kirchenhistoriker aus London, wo die Anglikaner den Rückgang der Gottesdienstbesucher gestoppt haben. Er erwähnte zudem, dass die gebürtige Somalierin Ayaan Hirsi Ali vor kurzem Christin wurde.
Das Leben ohne spirituellen Trost habe sie nicht mehr ertragen und die bessere kulturelle Vision des Christentums habe sie überzeugt. Beides, so Tomlin, dürfte für ein Aufleben der Kirche wesentlich sein.
Nicht nur Wundertäter, Mönche und Märtyrer
Der britische Theologe und Kirchenhistoriker führte in Freiburg aus, welche Gestalten in der Alten Kirche den Glauben kristallisierten und das Bezeugen modellierten: Miracle Workers, Martyrs and Monks, aber auch Messengers wie Justin, Origenes und Augustin, welche mit Philosophen debattierten und argumentativ für den Glauben an Christus kämpften.
Graham Tomlin stellte die Leistung der Apologeten unter drei Gesichtspunkten dar: 1. Sie befähigten Menschen, die Welt als ganze neu, frisch, mit anderen Augen zu sehen. Augustin rechnete mit der unsichtbaren, sieghaften Wirklichkeit von Gottes Stadt – weil Christus von den Toten auferstanden ist! 2. brachten diese Theologen die Segnungen des Glaubens auch auf der Ebene persönlichen Erlebens klar zum Ausdruck. Sie betonten: Das Evangelium von Jesus Christus verändert Menschen.
In den Träumen die Fragen finden
3. deuteten diese Kirchenväter «die Träume der Kultur ihrer Zeit und halfen ihr zu verstehen, was wirklich los war». Die Träume jeder Generation kreisen um ihre Leitvorstellungen, um Idole, Götzen, äusserte Tomlin. «Alle beten wir etwas an.» Es gehe auch heute darum, die Götzen zu identifizieren und den Götzendienst zu hinterfragen, konkret: die in ihm durchscheinenden eigentlichen Fragen von Christus her zu formulieren. Der Referent nannte die Epidemie der Einsamkeit, die Versuchung des Populismus, den Klimawandel, Transhumanismus und die verzweifelte Suche nach Identität. Zum Populismus die Frage: «Warum sehnen wir uns nach Daheim?» Zum Klimawandel: «Wem gehört der Planet und warum ist er wert, gerettet zu werden?»
Graham Tomlin, der neu das «Centre for Cultural Witness» am Sitz des anglikanischen Erzbischofs in London leitet, pointierte auf diese Weise das anglikanische Ringen um gesellschaftsrelevantes Christsein, welches in der Freiburger Konsultation auf die in Deutschland gepflegte «Öffentliche Theologie» bezogen wurde.
Ist wahr, was nützt?
Deren prominenter Vertreter Wolfgang Huber stellte seine Sicht der kirchlichen Entwicklung dar. Huber prägte 1998 den Begriff «Selbstsäkularisierung der Kirche». Die Entwicklung seither kritisierte er: Kirchenleiter hätten «gesellschaftliche Plausibilität durch nützliches Handeln» angestrebt.
Missionarische Impulse oder ein neues Interesse am Glauben hätten sich daraus nicht ergeben. Denn statt die Vermittlung von Glaubenswissen oder Bildung von religiöser Urteilsfähigkeit habe man pointierte Beiträge zu politischen Diskursen priorisiert.
Laut Wolfgang Huber ist es notwendig, «ausdrücklich zu thematisieren, was sich nicht mehr von selbst versteht». Dies stehe noch an. Besonders schwer falle die Suche und Schulung von Mitarbeitenden.
Im Pochen der Kirchen auf «Systemrelevanz» während Corona erkennt der Alt-Bischof eine neue Spielart der Selbstsäkularisierung. Denn was die Kirche tue, tue sie «nicht um des Systems, sondern um der Menschen willen».
Verstehen, was wir glauben, um es zu teilen
Den facettenreichen Abend moderierte die Ethikerin Christine Schliesser, Studienleiterin des Zentrums Glaube und Gesellschaft. Die EKS-Präsidentin Rita Famos interpretierte in einem Grusswort Öffentliche Theologie als Verpflichtung, dass Christen sich hineingeben in den Wettbewerb der Ideen, aber der Versuchung widerstehen, Parolen zu geben. Abt Urban Federer von Einsiedeln ermutigte Reformierte und Katholiken angesichts der Krisen, Zeugen der Hoffnung zu sein.
Der Dekan der Theologischen Fakultät Joachim Negel hatte die Anwesenden mit dem Hinweis begrüsst, (gute) Theologie ermögliche den Menschen «zu verstehen, was sie glauben».
So erhellend wie der Brite, so selbstkritisch wie der Deutsche sprach, wurde dieser Anspruch erfüllt. Und man darf sich auf die nächsten Freiburger Studientage im Juni 2024 freuen: über «Cultural Witness», mit Heinrich Bedford-Strohm – und Graham Tomlin.